Professionelle Nähe und Professionelle Distanz

Was ist Nähe und wo beginnt eine professionelle Distanz? Schon durch diese zwei Fragen wird klar, dass Abgrenzung einfacher gesagt als getan ist. Häufig sind die einzigen Strategien, die uns von KollegInnen und Führungskräften an die Hand gegeben werden, gute Ratschläge oder pauschalisierte Aussagen, wie zum Beispiel: „Da muss man sich halt abgrenzen.“ oder „Man muss auch mal Nein-Sagen können.“

Doch allgemeingültige Aussagen werden der Kom-plexität der Thematik nicht gerecht. Die Frage nach professioneller Nähe und Distanz begegnet uns in allen Berufen, in denen mit Menschen gearbeitet wird: ÄrztInnen, SozialpädagogInnen, ErzieherInnen, BeraterInnen, ... Alle Personen, die in helfenden, unterstützenden und beratenden Berufen arbeiten, müssen sich jeden Tag wieder mit der Frage nach dem „richtigen“ Maß an Nähe und Distanz auseinandersetzen.

 

Inhaltsverzeichnis

 

Das Konzept von Nähe und Distanz

Die Begriffe Nähe und Distanz werden in der Arbeit mit Menschen nicht nur im räumlichen Sinne verwendet, sondern beschreiben auch Denk- und Kommunikationskonzepte. Nähe und Distanz beschreiben so das emotionale, räumliche und soziale Verhältnis zwischen Menschen, sowie die Beziehung von Personen untereinander.[1]

Seine Grundlage hat die Forschung über Nähe und Distanz in der Bindungsforschung. Hier haben VorreiterInnen, wie der Psychologe John Bowlby die Effekte von Nähe und Distanz auf das Bindungs- und Beziehungssystem erforscht. Im „Fremde-Situations-Test“ wurden Kinder von ihren Müttern in unbekannter Umgebung für wenige Minuten allein gelassen. So konnte bestätigt werden, dass das Bindungssystem eher in ungewohnten und stressreichen Umgebungen aktiv ist.[2]

Dies gilt über die gesamte Lebensspanne: Menschen suchen insbesondere nach Nähe, wenn sie belastet oder gestresst sind. Das Ziel dieser Suche nach Nähe ist Unterstützung. Daher wenden wir uns in Stress-Situationen an Personen, von denen wir denken, dass diese uns bei unserer Problemlösung unterstützen können. Diese Suche nach Unterstützung erfolgt je nach kommunikativer Kompetenz auf unterschiedlicher Ebene: Säuglinge schreien laut nach den Eltern, Kleinkinder klammern sich möglicherweise an und im Erwachsenenalter bitten wir im besten Fall, um Hilfe, klagen unseren KollegInnen unser Leid oder rufen bei einer Beratungsstelle an.

 

Wie viel Nähe bzw. Distanz ist professionell?

Nähe und Distanz sind dynamisch und individuell. Es gibt daher leider keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, wie viel Nähe bzw. Distanz in beruflichen Beziehungen angemessen ist. Den richtigen Abstand zu finden, muss zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden. Gleichzeitig ist die aktive Gestaltung von Nähe und Distanz ein Merkmal professioneller Beratung und Beziehung.

„Es geht nicht um Nähe und Distanz an sich, sondern um ein jeweils als ‚richtig‘ empfundenes Maß von Nähe und Distanz.“[3]

 

Das Spannungsfeld von Nähe und Distanz

Wir erlernen im Laufe unserer Kindheit und Jugend, wie viel körperliche Nähe bei Gesprächen mit Fremden angemessen ist. Dieser von uns als richtig empfundene Abstand verändert sich jedoch ständig: Lernen wir die Person besser kennen, fühlt es sich möglicherweise richtig an, den physischen Abstand zu verkleinern. Dasselbe gilt auch für die emotionale Nähe. Unser persönliches Empfinden von Nähe und Distanz hängt somit von vielen verschiedenen Faktoren ab, die sich gegenseitig bedingen.

 

 

Insbesondere kulturelle Unterschiede im Verhältnis von Nähe und Distanz werden häufig übersehen und führen im Anschluss zu Irritationen und Missverständnissen. So ist es in Lateinamerika beispielsweise üblich, GesprächspartnerInnen bei Gesprächen sehr nahe zu kommen, wohingegen dieses Verhalten von EuropäerInnen eher als einengend oder sogar bedrängend wahrgenommen wird.

Sie merken schon, unser Nähe- und Distanzempfinden bewegt sich in einem komplexen Gefüge, das von verschiedenen Faktoren sowie den betreffenden Personen abhängen, die beteiligt sind.

 

 

Emotionale Belastung in der Arbeit mit Menschen

Nähe und Distanz werden häufig von starken Gefühlen begleitet. An einem Beratungstag empfinden wir die gesamte Gefühlspalette von Euphorie bis Wut, von Freude bis Scham, von Begeisterung bis Ohnmacht. Diese intensive Gefühlspalette ist es, die den Beratungsberuf so spannend, aber auch so energieintensiv macht. Vorgefertigte Handlungsmuster und Ratschläge können bei der Bewältigung dieser Emotionen nicht helfen, da unser emotionales Empfinden individuell und einzigartig ist. So sind auch unsere Reaktionsmuster auf Beratungssituationen individueller Ausdruck unserer Persönlichkeit. Wir geben somit ein Stück unserer Persönlichkeit in das Beratungsgespräch hinein. Das macht die Beratung menschlich und zugewandt und ermöglicht intensive Begegnungen und Veränderungen.

Gleichzeitig bedeutet das auch, dass wir uns als Beratende immer wieder die Zeit nehmen müssen, um unseren emotionalen Zustand zu überprüfen: Wie viel Energie habe ich gerade, um mich mit den Anliegen meiner KlientInnen auseinanderzusetzen? Wie geht es mir gerade privat? Gibt es etwas, das mich aufwühlt? Diese Bestandsaufnahme ist wichtig, um emotional nicht auszulaugen.

Erfahrungen von Nähe und Distanz in der Beratung gehen tiefer, als dies in gewöhnlichen Alltagsgesprächen die Regel ist.

 

In der Beratung hören wir Lebensgeschichten & Schicksale, die ...

... uns sprachlos und betroffen machen.

... ein Gefühl von Hilflosigkeit in uns auslösen.

... Wut in uns aufsteigen lassen.

... uns zum Weinen bringen.

... uns an unserer Gesellschaft/ unserer Arbeit zweifeln lassen.

 

Ein wichtiger Schritt in die Professionalisierung der Beratung ist es, die Herausforderungen und die Belastung anzuerkennen und diese nicht kleinzureden.

 

Individuelle Triggerpunkte

Ein Klient schildert Ihnen, wie schwer es für Ihn war, zu sehen, wie es seinem Vater mental immer schlechter ging. Jetzt könne er nicht einmal mehr die kleinsten Alltagstätigkeiten durchführen, da er nicht mehr weiß, wie sie gehen. Der Klient beschreibt die Hilflosigkeit und Überforderung, die ihn immer wieder überkommt, wenn er seinen Vater ansieht. Er könne ihn nur noch für ein paar Minuten allein lassen, da er Angst habe, sein Vater könne sich in seiner Abwesenheit verletzen. Es sei, als würde er ein zweijähriges Kind betreuen.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie die Geschichte des Klienten hören? Welche Gefühle steigen in Ihnen auf? Haben Sie bereits etwas Ähnliches erlebt?

Haben wir uns bereits selbst schon in einer bestimmten Situation befunden, fällt es uns leicht, die Gefühle des Gegenübers nachzuempfinden. Gleichzeitig fällt es uns schwer, Abstand zu wahren. Wir übertragen unsere Gefühle und Gedanken, die wir in einer ähnlichen Situation hatten, auf unser Gegenüber. Dies gilt insbesondere für Situationen, in denen wir starke Gefühle empfunden haben – es entstehen individuelle emotionale Trigger. Die Folge: Es fällt uns schwer, eine professionelle Distanz zu wahren und unsere GesprächspartnerInnen als eigenständige Individuen zu respektieren. Wir leiden mit unserem Klienten/unserer Klientin mit.

 

Mitleiden vs. Mitfühlen

Beim Mit-leiden übernehmen wir die Gefühle unseres Gegenübers. Wir gleichen sie mit eigenen Erfahrungen und Erlebnissen ab und stellen Vermutungen über die Gedanken, Gefühle und Handlungsmöglichkeiten des Klienten/der Klientin an. Wir sprechen aus der Haltung heraus: „Ich weiß, wie es Dir geht. Ich habe bereits ähnliches er-lebt.“

Beim Mitfühlen agieren wir aus der Haltung heraus: „Ich höre Dich. Ich sehe Dich. Ich möchte Dich verstehen.“ Durch diese verständnisvolle Basis fühlen wir uns in die Lage der anderen Person ein und können ihre Gefühle nachvollziehen – ohne selbst von diesen überschwemmt zu werden. Mitgefühl schenkt Trost.

 

Reflexion: Starke Emotionen in Beratungen

Eine der wichtigsten und möglicherweise auch eine der schwierigsten Aufgaben ist es, in Beratungsgesprächen immer wieder nach innen zu blicken. Besonders beim Zuhören verlieren wir uns oft im Außen und nehmen unsere Gefühle erst wahr, wenn sie uns überrollen.

Wie geht es mir gerade? Was empfinde ich? Was löst das Gesagte in mir aus? Um diese Fragen nicht zu vergessen und immer wieder zu Ihnen zurückzufinden, kann es helfen, eine visuelle Erinnerung an Ihrem Schreibtisch oder in Ihrem Büro zu befestigen. Wählen Sie ein schönes Bild, ein Foto, eine Pflanze oder ein Erinnerungsstück aus und blicken Sie immer, wenn Ihr Blick darauf fällt, nach innen.

 

Professionelle Beziehungsgestaltung

Das „richtig“ empfundene Maß von Nähe und Distanz im Gespräch immer wieder zu finden, ist nicht nur für die Ratsuchenden zentral, damit diese die Beratung als bereichernd wahrnehmen. Auch die MitarbeiterInnen profitieren. Denn sowohl zu viel Nähe als auch zu viel Distanz wird von den MitarbeiterInnen auf Dauer als belastend wahrgenommen – obwohl meist nur vor zu viel Nähe gewarnt wird. Fehlt in Gesprächen die Empathie, da zu viel Abgrenzung stattfindet, sehen die MitarbeiterInnen nach einiger Zeit keinen Sinn mehr in ihrem Tun.

Eine gewisse emotionale Nähe und Erreichbarkeit sind daher notwendig, um unsere Arbeit als wirkungsvoll und sinnhaft zu erleben.

 

Zu viel Nähe Zu viel Distanz
  • Aufweichen der formalen Rollen (freundschaftliche Beziehung)
  • Starke Übertragung von Gefühlen
  • Gefühl von Enge und Überforderung
  • Verhärtung der formalen Rollen
  • Mangel an Einfühlungsvermögen
  • Gefühl von Gleichgültigkeit

 

Doch, wie viel Nähe möchte ich zulassen? Wie lerne ich meine individuellen Grenzen kennen und wie schaffe ich es, emotional flexibel zu bleiben? Diese Fragen sind schwierig zu beantworten, da die Antworten eng mit unseren eigenen Erfahrungen, Rollen und Werten verknüpft sind. Aus diesem Grund möchte ich Sie an dieser Stelle zu einer Reflexionsübung einladen.

 

Übung: Gute Gründe

Bei längerfristigen Beratungsangeboten kann es passieren, dass wir eine Abneigung oder einen inneren Widerstand gegen Personen entwickeln, die wir beraten. Wir befinden uns in einem Zwiespalt: Auf der einen Seite möchten wir Unterstützung bieten, auf der anderen Seite fällt es uns schwer mit dem Verhalten, das die Person zeigt, umzugehen. Die Übung „Gute Gründe“ kann Sie unterstützen Widerstände abzubauen und Verständnis aufzubauen:

 

Schritt 1: Beschreiben Sie das Verhalten der betreffenden Person und notieren Sie typische Aussagen und Redewendungen.

Schritt 2: Suchen Sie anschließend nach guten Gründen für das Verhalten der Person. Stellen Sie Vermutungen an. Warum verhält sich diese Person so? Welche Sorgen könnten ihr Verhalten leiten? Welche Hoffnungen könnten sie antreiben? Welche Erfahrungen vermuten Sie hinter dem Verhalten?

Schritt 3: Wechseln Sie anschließend die Perspektive und fragen Sie sich, was helfen könnte, wenn Sie diese Person wären. Welche Worte möchten Sie hören? Was hilft Ihnen sich verstanden zu fühlen? Was erzeugt Widerstand?

Sie wollen mehr dazu erfahren, wie Sie Nähe und Distanz aktiv gestalten und leben können, dann melden Sie sich gerne bei mir.

Birgit Schäfer

 

 

Literaturverzeichnis

[1] Best, L.: Nähe und Distanz in der Beratung. Das Erleben der Beziehungsgestaltung aus der Perspektive der Adressaten. Wiesbaden: Springer Verlag, 2019, S.35.

[2] Best, L.: Nähe und Distanz in der Beratung. Das Erleben der Beziehungsgestaltung aus der Perspektive der Adressaten. Wiesbaden: Springer Verlag, 2019, S.36.

[3] Dörr, M., Müller, B. (Hrsg.): Nähe und Distanz – Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität, Weinheim: Beltz Juventa Verlag, 2012, S.7.

 

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